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Wenn Prozesse das Denken übernehmen – Warum Organisationen sich selbst im Weg stehen können

Wer in Organisationen unterwegs ist – als Führungskraft, als Change-Verantwortliche oder Personalentwickler:in – macht häufig folgende irritierende Beobachtung: Da laufen Prozesse perfekt. Alles ist dokumentiert, abgestimmt, zertifiziert. Und dennoch: Es klemmt. Märkte wandeln sich, Kundenbedürfnisse verschieben sich, aber die Organisation reagiert kaum. Entscheidungen sind zäh. Innovation bleibt auf der Strecke.

Ein Artikel in der Frankfurter Rundschau beleuchtet dieses Phänomen am Beispiel der deutschen Automobilindustrie. Insbesondere bei VW sei eine Prozesslandschaft entstanden, die so komplex, formalisiert und selbstbezüglich sei, dass sie heute wie eine Bremse wirkt. Der Artikel greift auch ein Zitat von Steve Jobs auf. 1995 sagte er in einem Fernsehinterview:

„Wenn Unternehmen größer werden, dann wollen sie ihren Erfolg wiederholen. Sie denken, der Prozess war magisch, deswegen versuchen sie ihn zu institutionalisieren. Dabei verwechseln sie aber den Prozess mit dem Ergebnis.“

Dieses Bild einer „magischen Formel“, die zum Selbstzweck gerinnt, begleitet uns wie ein Leitmotiv. Und es lädt mich ein zu einer genaueren Analyse: Was passiert da eigentlich in Organisationen? Und wie lässt sich dieses Phänomen jenseits von Schuldzuweisungen verstehen?

Prozesse sind nicht neutral – sie sind Strukturen mit Eigenlogik

In der Alltagssprache sind Prozesse oft positiv konnotiert: Effizienz, Transparenz, Reproduzierbarkeit – erwartbare Stabilität. Prozesse sollen Fehler vermeiden und Komplexität beherrschbar machen. Aber Organisationen sind keine Maschinen. Sie sind – im systemtheoretischen Sinne – soziale Systeme, die sich selbst durch Kommunikation reproduzieren (Luhmann). In ihnen entstehen immer Eigenlogiken.

In arbeitsteiligen Organisationen braucht es Strukturen, um Koordination zu ermöglichen. Prozesse erfüllen hier eine zentrale Funktion: Sie schaffen Orientierung in der Unsicherheit. Aber sie erzeugen gleichzeitig eine eigene Rationalität, die nicht mit der Logik der Gesamtorganisation identisch ist. Herbert Simon beschrieb das bereits in den 1950er Jahren mit dem Konzept „bounded rationality“: Menschen – und damit auch Organisationseinheiten – handeln auf Basis begrenzter Informationen und in klar umgrenzten, lokalen Verantwortlichkeiten.

Vereinfacht bedeutet das: Was lokal sinnvoll erscheint, kann global dysfunktional sein.

Prozessoptimierung – aber wofür eigentlich?

Gerade im Management ist das Schlagwort Prozessoptimierung beliebt. Es verspricht Fortschritt, Effizienz aber eben auch Kontrolle. Aber systemtheoretisch gedacht muss man fragen: Was wird eigentlich optimiert – und aus welcher Perspektive?

Wenn Prozesse sich entlang interner Kriterien (z.B. Zeit, Budget, KPI) optimieren, können sie sich allmählich vom ursprünglichen Zweck entkoppeln. Ein Genehmigungsprozess kann „reibungslos“ laufen – auch wenn er längst Entscheidungen blockiert, weil die Realität schneller ist. Eine Reportingstruktur kann „exzellent“ getaktet sein – obwohl sie niemand mehr liest.

Jedes Subsystem (z. B. Qualitätsmanagement, Controlling, HR) entwickelt eigene Kriterien für den Erfolg. Diese Autonomie ist notwendig – aber sie führt zu einer paradoxen Situation: Jedes Systemteil funktioniert „richtig“, aber das Ganze funktioniert nicht mehr gut.

Wenn Prozesse zum Selbstzweck werden

Das, was Steve Jobs beschreibt – die Verwechslung von Prozess und Ergebnis – ist kein moralisches Versagen, sondern eine strukturelle Folge jeder Organisationen.

Ein zweites Beispiel aus meiner eigenen Beratungspraxis macht das deutlich: In einigen Organisationen, die sich in den letzten Jahren agil organisiert haben, werden Projektteams dafür kritisiert, zu schnell Ergebnisse zu liefern. Der Grund war nicht etwa die Ergebnisqualität, sondern die Bewertung, sie hatten mehrere interne Review-Formate ausgelassen. Die Erwartung war: Nur wer alle vorgesehenen Schleifen durchläuft, „arbeitet richtig“. Der Prozess wurde zur Legitimation – nicht zur Unterstützung – des Handelns.

Was sich hier zeigt, mündet nicht selten in einer Hyperstabilität prozessualer Selbstreferenz oder anders formuliert: Die Organisation oder Organisationseinheit beginnt, sich selbst als Maßstab zu nehmen. Nicht mehr die Umwelt zählt (Kunde, Markt, andere Organisationseinheiten, Kontext), sondern die Übereinstimmung mit dem eigenen Referenzsystem.

Das Ergebnis: Organisationale Blindheit gegenüber relevanten Veränderungen.

Woran erkennt man das? Beobachtungsmöglichkeiten für Praktiker:innen

Hier gilt es nicht durch Aktionismus vorzupreschen, sondern sensibel für die Signale zu werden, an denen sich eine Verselbstständigung von Prozessen ablesen lässt und sich zu fragen, welche Folgen dieses Verhalten hat. Hier einige Verhaltensbeispiele:

Ritualisierung von Routinen: Meetings, Reviews oder Berichte laufen „weil es so vorgesehen ist“, ohne dass der Nutzen regelmäßig hinterfragt wird.

Strukturelle Immunisierung gegen Irritation: Kritische Rückmeldungen (intern oder vom Markt) werden nicht zum Anlass für Prozessveränderungen oder -Reflexion genommen, sondern abgewertet: „Das wurde ja nicht richtig eingereicht.“

Erfolgsmessung entlang interner KPI: Wenn Erfolg primär daran gemessen wird, ob man den Prozess gut eingehalten hat – und nicht, ob ein relevanter Effekt entstanden ist.

Prozesse werden nicht mehr als Mittel, sondern als Identität verstanden: Wenn z.B. Teams sagen: „Wir sind ein agiles Unternehmen“, und damit meinen: „Wir arbeiten nach dem Scrum-Framework“ – nicht: „Wir reagieren schnell und flexibel auf komplexe Umwelten.“

Weder Prozessfokussierung noch Prozessoptimierung sind Fehler – es braucht Beobachtung und Erwartungsklarheit

Wichtig ist: All diese Dynamiken sind nicht pathologisch. Sie sind strukturell wahrscheinlich, sobald Organisationen wachsen, sich arbeitsteilig aufstellen und Verhaltensmöglichkeiten standardisieren. Die Reibung, die daraus entsteht, ist kein Unfall, sondern Teil der Funktionsweise. Wer hier nicht weiter weiß, dem hilft der Blick auf die Erwartungslandkarte. Welche Stakeholder der jeweiligen Organisation oder Organisationseinheit haben welche Erwartungen? Welche dieser Erwartungen werden momentan ungünstig bedient?

Damit entstehen Beobachtungsnotwendigkeiten für Führung und Organisationsentwicklung:
Wenn Prozesse sich verselbstständigen, gerät die Organisation in eine Art strukturelle Trägheit. Man bewegt sich – aber möglicherweise nicht mehr auf das Entscheidende hin.

Abschließendes Fazit: Prozesse sind keine Wahrheit – sie sind Hypothesen über Stabilität

Anhand dieses Beispiels zeigt sich wie Theorie (hier Systemtheorie) dabei helfen kann, ganz praktische Phänomene wie derartige Prozessverselbstständigung nicht als Managementfehler, sondern als Resultat funktionaler Ausdifferenzierung zu begreifen. Prozesse entstehen nicht aus böser Absicht – sondern aus der Erwartung nach Stabilität, Reproduzierbarkeit und Ordnung.

Doch Stabilität kann trügen. Gerade wenn sich Umweltbedingungen verändern, muss Organisation sich infrage stellen dürfen. Das bedeutet nicht: Prozesse abschaffen. Sondern: sie als Hypothesen betrachten, nicht als Wahrheiten.

Oder, wie Steve Jobs es formulierte:

„Der Prozess ist nicht magisch – das Ergebnis zählt.“

Quellenhinweise

  • Luhmann, Niklas (1997): Organisation und Entscheidung
  • Simon, Herbert (1957): Administrative Behavior
  • Frankfurter Rundschau (2024): Vorhersage von Steve Jobs – Fehler deutscher Autobauer
  • Schreyögg, Georg & Sydow, Jörg (2010): Organizing for Fluidity? in Organization Science

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