Gedanken über das Scheitern der digitalen Transformation
Wie kann man digitale Transformation einordnen?
Kaum ein Thema hat in den letzten zehn Jahren so viel Aufmerksamkeit erlangt wie die Digitalisierung bzw. die digitale Transformation. In neun von zehn Beratungsprojekten spielt Digitalisierung eine Rolle und auch für unsere Akademie-Teilnehmenden geht es regelmäßig um die Frage, wie Digitalisierung den Kontext der Organisation verändert. Spätestens hier kommt die Frage auf, welcher Arbeitsbegriff sich eignet, um Digitalisierung zu beschreiben und worin wesentliche Unterschiede zur Automatisierung und Informatisierung als zurückliegende digitale Meilensteine bestehen? Unbestritten ist, dass heutzutage Daten in deutlich größerem Umfang und mit weit höherer Geschwindigkeit verfügbar sind. Für viele – nicht nur für die Generation Z – ist es schwer vorstellbar, dass man vor 20 Jahren noch auf den Versand von Daten-CDs mit 700 MB warten musste. Und künstliche Intelligenz kommt nun als Booster für die fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft hinzu.
Die Digitalisierung von Akten, die Einführung von SAP oder der Übergang zu S/4HANA, die Implementierung neuer Kundenschnittstellen zur besseren Erreichbarkeit der digitalisierten Kundenseite oder die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle – all das sind Aspekte einer digitalen Transformation. Was Digitalisierung schlussendlich bedeutet, kann unserer Meinung nach nur in der konkreten Organisation beantwortet werden. Die organisationalen Mechanismen entlang derer die Digitalisierung ihre Wirkung entfaltet sind jedoch gleichgeblieben und diese These ist die Grundaussage dieses Artikels.
Die Digitalisierung der formalen Strukturen
Wenn wir mit den für die Digitalisierung verantwortlichen Mitarbeitenden sprechen, fällt auf, dass das eigene Digitalisierungsvorhaben die weitreichenden Veränderungen der Formalstruktur, die gerade hier stattfinden, kaum berücksichtigt. Insbesondere dann, wenn die Technologie ins Zentrum der Veränderung gestellt wird, entstehen links und rechts blinde Flecken. Gehen die Gespräche weiter, sind irgendwann alle Features und Vorzüge aufgezählt, und es kommen auch weniger erfolgreiche Berichte dazu. Über das Scheitern einzelner Teilprojekte, die Verschiebung relevanter Meilensteine, anfallende Mehrkosten und hohen Steuerungsaufwand sowie über nervende Dienstleister und Vertragsstrafen wird berichtet. Schuld daran sind, und da sind sich Organisation, Dienstleister bzw. Expertenberatung in der Regel einig, die handelnden Personen – der Kunde hat „eben nicht die richtigen Leute“.
Aber Moment mal – wenn die Digitalisierung so massiv in die Struktur der Organisation eingreift, sind nicht nur ein paar „Wenige“ dafür verantwortlich. Nein, das Scheitern deiner digitalen Transformation, liebe*r Kund*in, liegt an deiner Organisation und lässt sich auch erklären. Für die Organisation bedeutet die Digitalisierung, dass bestehende Abläufe, Machtbeziehungen, Führungsmittel, informale Tauschhandel, effiziente Workarounds, verdeckte Aufstiegschancen, Einflussmöglichkeiten sichtbar und wahrscheinlich auch infrage gestellt werden. Das mag man ethisch gut finden, wird doch die tradierte Organisation mal „so richtig durchgeschüttelt“. Vor dem Hintergrund, dass jede digitale Transformation Ressourcen bindet, halten wir es für unablässig, das Vorhaben oder Projekt in den Kontext eines aufgeklärten Organisationsverständnisses einzubetten.
Ein Zusatz um auf die digitale Transformation zu schauen
3 Seiten der Organisation
Organisationen organisieren sich auf drei Strukturseiten. Auf der formalen Seite sind all diejenigen Strukturen zusammengefasst, die klären, woran man sich als Organisationsmitglied (SOP, Meetings, Entscheidungsbefugnisse, Hierarchie) zu halten hat, wenn man Mitglied bleiben will. Da die formale Seite nie jeden Einzelfall regelt, antwortet die Organisation mit informalen Routinen (der sogenannten Organisationskultur). Hierzu zählen effiziente Workarounds, Tauschhandel oder schnelle Dienstwege. Außerdem zeigt jede Organisation nur ein Mindestmaß ihrer inneren Widersprüchlichkeit nach außen, und gibt sich somit eine dritte Seite – die Schauseite (Webseitendarstellung, Leitbild usw.). Alle drei Seiten führen ein Eigenleben und interagieren in verschiedenster Weise miteinander. Sobald eine formale Regel nicht mehr greift, kann u.a. eine informale Routine aushelfen. Folgendes Beispiel macht das anschaulich: Die Organisation nutzt einen bestimmten Anbieter für Videokonferenzen. Gleichzeitig haben viele Mitarbeitende keinen Laptop oder keine Webcam an ihren Computern. Sie helfen sich regelmäßig mit dem privaten Smartphone aus, um eine Videokonferenz stattfinden zu lassen und halten damit die Organisation handlungsfähig.
Informalität entsteht, indem Organisationsmitglieder Abweichungen zu formalen Wegen ausprobieren und übernehmen. Dort wo durch die digitale Transformation Algorithmen Entscheidungen ersetzen, ist dieser Spielraum nicht mehr gegeben. Die Formalstruktur wird gestärkt und informale Routinen verlieren ihre Wirkung, aber nicht ihre Relevanz. Da Informalität aber auch immer Flexibilität für die Organisation bedeutet und Formalität Flexibilität einschränkt ist mit Einbußen in der Flexibilität zu rechnen.
Führungsmittel
In jeder Organisation verfügen Führungskräfte über bestimmte Führungsmittel. Hierzu zählen zum Beispiel Informationen. Indem Führungskräfte den Zugang zu Informationen formal öffnen und schließen können, wird Kommunikation eingegrenzt. Wenn durch die Digitalisierung Informationen allen Mitarbeitenden zur Verfügung stehen, da sie auf eine Plattform zugreifen können, dann fehlen den Führungskräften möglicherweise Führungsmittel an anderer Stelle. Das ist weder schlecht noch gut, sondern schlicht ein Eingriff in momentan stabile Führungsprozesse und damit von Bedeutung für das Gelingen digitaler Transformation. Wenn z.B. die Performance-Messung einer Führungskraft unverändert bleibt, aber diese weniger Führungs-Mittel zur Verfügung hat, kann sich die Begeisterung für Kollaboration in Grenzen halten. Die landläufige Lösung der Führungskraft Veränderungsresistenz vorzuwerfen und ihr ein Zwangscoaching anzuordnen, greift hier deutlich zu kurz und mündet im schlechtesten Fall in Illoyalität oder auch Projektsabotage.
Verborgenes vs. Transparenz
Zunehmende Transparenz – diese Entwicklung ist sowohl in der Gesellschaft aber eben auch in Organisationen zu beobachten. Geschäftszahlen, Urlaubsplanungen, Schichtverteilungen – die Digitalisierung hebt viele Informationen aus dem Verborgenen und bringt Transparenz in die Organisation. Vergessen bleibt dabei, dass auch im Verborgenen stabile Funktionen liegen. Das informale jede Organisation lebt davon, im Verborgenen seine Funktion zu erfüllen und damit die Organisation am Funktionieren zu halten. Die festen Gehaltszuordnungen in Verwaltungen bieten Führungskräften wenig Spielräume Talente zu fördern. Da ist es nicht unüblich, dass man sich informal anderen Incentivierungen bedient (z.B. Bevorzugung bei der Urlaubsvergabe). Wo diese Praxis an das Tageslicht kommt, z.B. über einen geteilten Kalender, muss sie sofort eingestellt und als Einzelfall deklariert werden, da sonst jede Führungskraft in Erklärungsnöte kommt. Digital unterstützte Transparenz kann schnell zur Brechstange werden und damit Türen öffnen, aber auch Eingänge zerstören.
Worauf gilt es in der digitalen Transformation zu achten
Wir haben in diesem Artikel gezeigt, dass neben der fachlichen Expertise und einer exzellenten technischen Lösung vor allem die Beobachtungsintelligenz des Systems für das Gelingen der digitalen Transformation entscheidend ist. Was wir damit meinen, sind u.a. die folgenden Aspekte:
1. Sich die umfangreichen Veränderungen auf der formalen Seite und den Auswirkungen auf die informale Seite und die Schauseite zu vergegenwärtigen, und sie nicht nur auf die technische Tool-Ebene zu reduzieren. Wird eine Digitalisierung ohne Folgen, Risiken und Verlierende verkauft, ist es notwendig hinter die Kulissen derartiger Schauseitendarstellungen zu schauen. Welche Konflikte sollen hier im Verborgenen bleiben? Welche Diskurse müssen wir vorab führen, um auf Widerstand im Nachhinein informiert reagieren zu können?
2. Dabei entstehende mikropolitische Konfliktfelder der Organisation zu antizipieren und rechtzeitig und ohne Partizipationsmoral mit den richtigen (nicht allen!) Akteuren in den Diskurs zu bringen.
3. Sich der Zirkularität von Veränderungen bewusst zu werden. Der Einsatz neuer Tools wird Folgen und Nebenwirkungen haben. Ein linearer Projektplan ist für die Schauseite wichtig, um beispielweise Ressourcen dafür freizulegen, im eigentlichen Arbeiten ist dieser eher hinderlich. Es ist eine elementare Qualitätskriterium eines Veränderungsprozesses, dass der Beobachtung von Folgen (intendiert wie nichtintendiert) Raum eingeräumt wird und durch entsprechend dafür angelegter Formate, der Diskurs und damit die Anpassung stimuliert wird.
Um diese komplexen Herausforderungen der digitalen Transformation effektiv zu meistern, ist es entscheidend, alle drei Strukturseiten einer Organisation – die formale, die informale und die Schauseite – zu verstehen und aktiv zu gestalten. Jede Veränderung auf der technologischen Ebene hat tiefgreifende Auswirkungen auf diese Strukturen. Die Fähigkeit, diese Wechselwirkungen zu durchschauen und angemessen darauf zu reagieren, ist entscheidend für den Erfolg des Digitalisierungsvorhabens.
Der Artikel ist eine Co-Produktion von Jessica Rother und René Langheinrich.
Quellen:
Metaplan – Whitepaper Digitale Transformation
Niklas Luhmann – Organisation und Entscheidung
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